12 Mai Der Wert der gegenständlichen Kunst: Eine psychologische Perspektive
Warum wir in der Kunst neue Wege gehen sollten
Gegenständliche Kunst, die reale oder imaginäre Motive abbildet, wird in der modernen Kunstwelt oft als veraltet abgetan. Während abstrakte und konzeptionelle Strömungen dominieren, gilt figurative Malerei als rückständig. Doch gerade ihre Direktheit birgt einen tiefen psychologischen Wert – für Künstler und Gesellschaft gleichermaßen. Wie alle Künstler folgen auch jene, die gegenständlich arbeiten, inneren, emotionalen Beweggründen, die ihre persönlichen Erfahrungen und Bedürfnisse widerspiegeln.
Kunst als Spiegel der Identität
Kunst ist ein zutiefst persönlicher Akt. Gegenständliche Malerei ermöglicht Künstlern, ihre Wahrnehmung der Welt sichtbar zu machen, indem sie konkrete Szenen oder Objekte darstellen – etwa Landschaften, die die Schönheit der Natur einfangen, oder Blumen, die emotionale Tiefe vermitteln. So übersetzen sie innere Erlebnisse in greifbare Formen. Frida Kahlo etwa nutzte realistische Selbstporträts, um Schmerz, Identität und kulturelle Wurzeln auszudrücken. Psychologisch betrachtet fördert dieser Prozess die Selbstfindung, da die Auseinandersetzung mit der eigenen Sichtweise das Bewusstsein für die eigene Identität und den Platz in der Welt stärkt. Kunsttherapeutin Cathy Malchiodi betont, dass gegenständliche Darstellungen unterdrückte Emotionen verarbeiten helfen, indem sie eine klare Verbindung zwischen innerer Erfahrung und äußerem Ausdruck schaffen. Kunst wird so zum Akt der Selbstbestimmung, der Künstler authentisch mit ihrer Umgebung verbindet.
Die Sprache der Kunst: Gegenständlich vs. Abstrakt
Gegenständliche Kunst unterscheidet sich grundlegend von abstrakter Kunst in Ansatz und Wirkung. Während abstrakte Kunst von außen nach innen arbeitet – durch Formen und Farben das Innenleben erkundet –, geht gegenständliche Kunst von innen nach außen, um die innere Wahrheit des Künstlers sichtbar zu machen. Diese Direktheit macht sie zu einem kraftvollen Werkzeug für Künstler, die ihre Identität in einer unterdrückenden Gesellschaft behaupten. Blumenmotive, wie sie Künstlerinnen oft nutzten, waren nicht nur ästhetisch, sondern subversive Akte, die verletzliche Emotionen verständlich ausdrückten. Georgia O’Keeffe etwa verlieh großformatigen Blumen, einem vermeintlich „dekorativen“ Motiv, universelle Bedeutung. Abstrakte Kunst, die viele Interpretationen offenlässt, hätte diese unmittelbare Kommunikation erschwert. Laut Malchiodi fördern gegenständliche Bilder Empathie, da sie Emotionen klar vermitteln. In einer Welt, die Authentizität marginalisiert, bietet gegenständliche Kunst eine klare Sprache, um das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Kunsttherapeutische Perspektiven: Gegenständlich und Abstrakt
In der Kunsttherapie zeigt sich die psychologische Bedeutung beider Ansätze. Gegenständliche Kunst dient der Externalisierung innerer Erlebnisse, insbesondere bei Traumata, Tabuthemen oder unterdrückten Emotionen. Durch das Malen erkennbarer Motive – etwa eines Hauses oder einer Szene – können Klienten belastende Erfahrungen symbolisch darstellen, ohne sie direkt verbalisieren zu müssen. Dies reduziert Scham oder Angst. Die narrative Struktur bietet einen „sicheren Container“ für schwierige Inhalte und erleichtert therapeutische Gespräche. Ein Klient, der ein Kindheitstrauma nicht ausdrücken kann, könnte eine vergangene Szene malen, um das Erlebnis schrittweise zu verarbeiten. Abstrakte Kunst hingegen fördert die Erkundung unbewusster oder schwer greifbarer Aspekte der Psyche, wie C. G. Jungs „Schatten“. Durch freien Ausdruck mit Farben und Formen können Klienten, die unter Perfektionismus oder gesellschaftlichem Druck leiden, Kontrolle loslassen und intuitive Prozesse zulassen. Studien zeigen, dass abstrakte Kunst emotionale Hirnareale aktiviert und die Selbstexploration bei Burnout oder Depressionen unterstützt. Ein Manager mit Burnout könnte durch chaotische Farbkompositionen unterdrückte Emotionen entdecken. Beide Ansätze sind komplementär: Therapeuten beginnen oft mit gegenständlichen Aufgaben für Struktur, gefolgt von abstrakten Übungen, um tiefere Inhalte zu erkunden. Die Wahl hängt von individuellen Bedürfnissen ab – manche Klienten bevorzugen die Klarheit gegenständlicher Kunst, andere die Freiheit der Abstraktion.
Menschliche Beweggründe und Fehlwahrnehmungen
Künstler wählen ihre Ausdrucksform nicht nur aus ästhetischen, sondern aus tiefen emotionalen Gründen, die ihre Lebensrealität widerspiegeln. Gegenständliche Kunst zieht oft jene an, die ihre inneren Konflikte oder gesellschaftliche Unterdrückung sichtbar machen wollen, wie Frauen, die historische Tabus durchbrachen. Abstrakte Kunst hingegen spricht Künstler an, die sich von äußeren Normen lösen und ihr Unbewusstes erkunden möchten. Doch die Kunstwelt stilisiert abstrakte Kunst oft als „höher“ oder intellektuell überlegen, während gegenständliche Kunst als trivial abgetan wird. Diese Hierarchie ignoriert, dass die Wahl der Methode aus Notwendigkeit, Verletzlichkeit oder Rebellion entspringt, nicht aus vermeintlicher Stabilität oder Reflexion.
Ablehnung der Kunst als Verneinung des Selbst
Die Geringschätzung gegenständlicher Kunst hat weitreichende Folgen für Künstler. Sie betrifft nicht nur das Werk, sondern die gesamte Person. Marginalisieren Institutionen oder der Kunstmarkt diese Ausdrucksform, wird die individuelle Wahrheit des Künstlers infrage gestellt. Dies erinnert an dysfunktionale familiäre Dynamiken, in denen Menschen ihre wahre Natur unterdrücken müssen. Psychologe Arno Gruen beschreibt eindrucksvoll, wie gesellschaftliche Normen das authentische Selbst verraten und die innere Freiheit einschränken. Die Ablehnung gegenständlicher Kunst verweigert Künstlern somit nicht nur Anerkennung, sondern auch ihr Recht auf authentischen Selbstausdruck.
Strukturelle Hürden in der Kunstwelt
Die Kunstwelt spiegelt aktuelle gesellschaftliche Machtstrukturen wider. Die Dominanz männlicher Künstler, die mit oft selbst inszenierten Großwerken den Markt prägen, drängt viele Kunstformen an den Rand. Künstlerinnen wurden historisch oft auf stereotype, „dekorative“ Motive reduziert, wie Georgia O’Keeffe, die sich gegen solche Zuschreibungen wehren musste. Diese Dynamiken ähneln Mechanismen emotionaler Erpressung in dysfunktionalen Familien, wie Susan Forward sie beschreibt, bei denen Individuen durch Schuld oder Abwertung kontrolliert werden. Künstler, deren Werke abgewertet werden, kämpfen nicht nur um einen Platz im Kunstmarkt, sondern auch um die Anerkennung ihrer Wahrheit.
Selbstwirksamkeit durch künstlerischen Ausdruck
Trotz oder gerade wegen solcher Widerstände bleibt gegenständliche Kunst ein kraftvoller Akt der Selbstbehauptung. Indem Künstler ihre innere Not oder gesellschaftlich tabuisierte Erfahrungen sichtbar machen, fordern sie die Welt auf, ihre Perspektive anzuerkennen. Alice Neel etwa zeigte mit realistischen Porträts die soziale Realität ihrer Modelle – oft marginalisierte Menschen – und schuf Werke von bleibender Relevanz. Kunstpädagogische Ansätze, die gegenständliche Kunst zugänglich machen, geben Menschen Mittel, ihre innere Wahrheit auszudrücken. Dieser Prozess der Selbstbestätigung stärkt nicht nur das individuelle Selbstverständnis, sondern hilft, gesellschaftliche Zwänge aufzubrechen. Gruen betont, dass authentischer Ausdruck entscheidend ist, um sich von äußerer Unterdrückung zu befreien. Künstler, die trotz Ablehnung ihre Wahrheit malen, zeigen Unabhängigkeit und Selbstachtung.
Ein neuer Realismus für eine neue Zeit
Gegenständliche Kunst ist mehr als eine ästhetische Disziplin – sie ist Ausdruck innerer Klarheit, menschlicher Verbindung und schöpferischer Selbstbestimmung. Als gesellschaftliches Medium verbindet sie Menschen emotional. In einer Zeit, geprägt von Tempo, Unsicherheit und abstrakten Kommunikationsformen, schafft sie Orientierung und emotionale Tiefe. Wer malt, nimmt sich Zeit und sich selbst ernst. Gegenständliche Malerei macht Gedanken nicht nur fassbar, sondern sichtbar. Sie ist ein stilles, aber kraftvolles Gegenmodell zu einer Welt, die Schnelligkeit über Substanz stellt. Ein neuer Realismus geht über die bloße Wiedergabe der sichtbaren Welt hinaus. Er ist ein Plädoyer für Achtsamkeit, tieferes Verstehen und den Mut, die eigene Sichtweise klar und verständlich auszudrücken. Dieser neue Realismus verbindet klassisches Handwerk mit persönlicher Bedeutung und baut Brücken zwischen Generationen, Kulturen und Lebenswelten, weil er nicht belehrt, sondern berührt. Wenn wir gegenständliche Kunst als zeitgemäßen Beitrag zum kulturellen Dialog anerkennen, entsteht Raum für Echtheit, Vielfalt und Wertschätzung. Darin liegt ihre gesellschaftliche Kraft – und ihre Zukunft.
Weiterführende Literatur
Malchiodi, C. A. (2011). The Art Therapy Sourcebook. New York: McGraw-Hill Education.
Forward, S. (1997). Emotionale Erpressung: Wenn andere dich mit Gefühlen manipulieren. München: Goldmann Verlag.
Gruen, A. (1992). Der Verrat am Selbst: Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Gruen, A. (1997). Der Verlust des Mitgefühls. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Anmerkung:
ChatGPT und Grok haben diesen Text Korrektur gelesen und wertvolle Formulierungshilfen gegeben. Ich danke den Entwicklern beider Plattformen für dieses Werkzeug, das mir als Autorin und Künstlerin neue Möglichkeiten eröffnet.