Kann man Narzissmus heilen?

Das kommt darauf an. Wenn Sie ein Empath sind und sich fragen, ob Sie den Menschen in Ihrem Leben, den Sie als „Narzissten“ ausgemacht haben, heilen können, dann lautet die Antwort „Nein“. Wenn Sie von sich selber glauben, ein Narzisst zu sein und nach Möglichkeiten suchen, sich selber zu heilen, lautet die Antwort „Ja“.

Anmerkung: Ich spreche hier ausschließlich von „Narzisst“ und „Empath“ im Kontext von alltäglichen Persönlichkeitstypen. Klinische Störungen, sowohl im narzisstischen als auch im abhängigen Bereich können Sie daran erkennen, dass Sie nicht mehr in der Lage sind am Alltag teilzunehmen.  Dann empfehle ich Ihnen ganz dringend, wenden Sie sich an Spezialisten, die dafür ausgebildet sind, z.B. niedergelassene Psychotherapeuten oder im Notfall Kliniken mit entsprechenden Abteilungen. 

 

Bevor ich nun die beiden Seiten dieser Frage beleuchte, erlauben Sie mir aber als Erstes, eine Frage zu stellen, die in dem ganzen Narzissmus-Hype der letzten Jahre für meine Begriffe nur unzulänglich oder gar nicht angesprochen wird.

Warum gibt es in der Spezies Mensch Narzissten und Empathen?

Mir ist klar, dass die meisten Menschen, die sich im Moment mit Narzissten und Empathen beschäftigen, vor allem eins wollen: den anderen ändern (die Narzissten) oder heilen (die Empathen) und attestiert zu bekommen, dass die eigene Verhaltensweise die einzig richtige ist. Beide leiden auf ihre Weise: die Narzissten sind voller Wut, die Empathen sind voller Schmerz, beide fühlen sich als Opfer, erleben, dass sie (aus ihrer Sicht) ungerecht behandelt werden. Und beide möchten hören, dass die Lösung ist, dass sie recht haben, und die anderen im Unrecht sind.

So einfach ist es aber nicht. Ich habe das in meinem ersten Beitrag zum Thema Narzissten und Empathen schon einmal ausführlich beschrieben: in der langen Evolution der Menschheitsgeschichte hat der Mensch irgendwann entdeckt, dass es einfacher ist, auf Beutejagd gegen andere Menschen zu gehen, als sich die Mühe zu machen, zu jagen, Nahrung anzubauen, im Schweiße des Angesichts Häuser zu bauen, oder Kinder großzuziehen. Von da an gingen Menschen auf Kriegszüge bei anderen Stämmen oder Clans. Und weil der Mensch eine Spezies ist, die sehr schnell lernt, haben das bis auf wenige Stämme irgendwann weltweit fast alle Menschen gemacht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt war Krieg so verbreitet, dass alle ihn als normal und unabänderlich als zum Menschen gehörig gesehen haben.

Das hieß aber auch, dass die Menschen lernen mussten, zu unterscheiden zwischen ihrer eigenen Gruppe, in der sie mit den anderen kooperieren mussten, sich fürsorglich verhalten mussten, und zwischen potenziellen Beutegruppen, wo sie hart und grausam sein mussten, auf keinen Fall Mitleid haben durften, da sie diese ja töten wollten, um sich ihren Besitz anzueignen.

Über die Jahrtausende entstanden so die Kriegsgesellschaften, wie wir sie aus der Geschichte kennen. Über einen ebenso langen Zeitraum richteten sich nach diesem Muster alle Bereiche des menschlichen Lebens aus. Das, was vorher vermutlich schon entstanden war, die Spezialisierung der Tätigkeiten, verwandelte sich aber mehr und mehr in ein Wertesystem.

Win – Win : In einer Kriegsgesellschaft profitieren beide Typen von der Rollenteilung

Eine wichtige Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer Kriegsgesellschaft sind Hierarchien. Für alle Tätigkeiten gibt es eine Rangfolge, die sich an ihrer Bedeutung für die Gesellschaft bemisst. Und daraus erwächst dann der Wert, den der jeweilige Mensch, der sie ausübt, für die Gesellschaft hat.

Im Krieg sind unangefochten die Männer, die das „Kriegshandwerk“ beherrschen, die wichtigsten Menschen. Unter ihnen ist zunächst der Anführer, der seine Leute motivieren kann, die wertvollste Person. Wir kennen ihn als das Alphamännchen. Gefolgt von den stärksten und härtesten Männern, den Kriegern, den Soldaten, die wiederum über den nicht ganz so starken, aber immerhin noch kriegstauglichen Männern, den Knappen oder den einfachen Soldaten stehen.

In der Zivilgesellschaft setzt sich diese Rangordnung fort. Dort sind zunächst die nicht kriegstauglichen Männer, die aber immerhin die Versorgung der Krieger sicherstellen, die nächsten in der Rangfolge. Frauen sind sowohl von ihren körperlichen Kräften, als auch von ihrer biologischen Aufgabe als Mütter her, nicht so gut geeignet, Kriege zu führen. Deshalb sind sie für den Nachwuchs zuständig und sorgen dafür, dass die Krieger ein Zuhause finden, in dem sie sich von den Anstrengungen des Krieges erholen können. Aber auch unter den Frauen entwickelten Hierarchien. Der Wert der Frau bemisst sich daran, inwieweit sie sich unter den Frauen durchsetzen kann, oder wie wertvoll sie für einen Krieger ist. Ihr Mittel der Wahl ist aber eher die emotionale Gewalt, bzw. die körperliche Attraktivität. Die Zivilgesellschaft gestaltet sich so analog zu der Kriegergesellschaft der Männer.

Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen bleibt den „schwächeren“ Exemplaren, die die nicht so wichtigen Tätigkeiten ausüben, nur die Möglichkeit, sich unter den Schutz der Mächtigen zu stellen. Sie lernen, deren Wünsche möglichst zu erahnen, ihnen zu dienen, nach dem Mund reden und auf eigene Machtansprüche zu verzichten, und sichern sich so ihr Überleben. Das heißt nicht, dass sie das wirklich gut finden, oder zufrieden sind damit, aber es ist unter den gegebenen Umständen die sicherste Lösung.

Narzissten und Empathen leiden beide unter dem gleichen Mangel

Aus den unterschiedlichen Anforderungen entstanden dann die beiden Verhaltensprogramme, die im Moment als „narzisstisch“ und „empathisch“ beschrieben werden. Und keinem von beiden wirklich gerecht werden.

Ich würde sie lieber mit Angriffsverhalten und Fluchtverhalten beschreiben. Denn beide dienen dem Überleben, der Verteidigung schon des ganz kleinen Kindes. Dabei ist für die „Narzissten“ Angriff die beste Verteidigung, und für die „Empathen“ der Rückzug. Die einen müssen sich durch ständiges Schreien, Toben, Durchsetzen, Besser sein, Gewinnen, ihren Platz in ihrer Familie oder ihrem Umfeld sichern. Die anderen müssen dies durch Brav sein, Stillsein, Gehorchen und Lieb sein tun.

Aber beide leiden unter dem gleichen Mangel: sie fühlen sich niemals sicher und geborgen in der Gemeinschaft, sie müssen ständig um ihre Position besorgt sein, sich beweisen, dürfen niemals entspannt einfach ihr Leben und ihre Fähigkeiten so leben, wie sie von Natur aus sind.

Narzissten und Empathen erkennen sich gegenseitig wieder

Dieser Mangel ist von der Qualität her für beide gleich schmerzhaft. Deshalb suchen beide auch ständig nach einem Menschen, der ihnen das gibt, was sie so sehr vermissen. Der sie annimmt, so wie sie sind, der ihnen die Geborgenheit vermittelt, der sie darin bestärkt, sich frei zu entfalten. Deshalb ist in der Regel die Begegnung zwischen den beiden ein Wiedererkennen auf der tiefsten Ebene der Seele. Es ist nichts, was man sich nur einbildet, es ist tatsächlich eine ganz, tiefe, unschuldige Liebe. Es ist die Liebe des ganz kleinen Kindes, das noch nichts weiß, von all den Verboten, den schrecklichen Verletzungen, dem Überlebensverhalten, das beide mitbringen und mit dem sie nun in diese Beziehung gehen.

Die Liebe zwischen den beiden ist echt

Was mir bei all den Diskussionen über Narzissmus und Empathie so leid tut ist, dass es auf beiden Seiten sehr schnell nur noch um Gewinnen und Verlieren geht, um besser oder schlechter, dass hier wieder ein Krieg geführt wird. Und das hält die ganze Dynamik am Laufen. Es nützt den Empathen gar nichts, wenn sie sich selber davon überzeugen, dass der andere „sie nicht verdient“, oder wenn Narzissten versuchen, die Empathen öffentlich zu demütigen, um nur ja nicht als Verlierer dazustehen. Denn ihre Liebe ist echt, nur ihr Verhalten, der gegenseitige Mangel an Vertrauen, macht es unmöglich, dieser Liebe zum Wachstum zu verhelfen.

Narzissten und Empathen müssen sich selber heilen

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Menschen auf der tiefen unbewussten Ebene spüren, dass wir, wenn wir auf diesem Planeten als Spezies weiter existieren wollen, uns an die Umwelt anpassen müssen, die wir durch unser Verhalten geschaffen haben. Wir werden nicht umhin können, den Krieg abzuschaffen und zu dem zurückzukehren, was wir (vielleicht) früher mal waren: Freundliche, kooperative, friedliche Wesen, die sich harmonisch in die Natur einfügen.

Um das zu erreichen, müssen sowohl die Narzissten als auch die Empathen ihr bisheriges Verhalten aufgeben. Meiner Meinung nach gibt es genau aus diesem Grund momentan so viele unterschiedliche Ansätze und Methoden, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ob dann jemand neue Verhaltensweisen entwickelt, indem er an Gott glaubt, oder an Naturwesen, oder ob jemand das Ganze einfach nur rational erkennt, ist dabei zweitrangig.

Narzissten und Empathen müssen gleichermaßen sehen lernen, wie ihr eigens Verhalten dazu gedient hat, Hierarchien herzustellen. Beide müssen erkennen, dass sie sich im Laufe ihres Lebens Programme erworben haben, die tief in ihren Gehirnstrukturen verwurzelt sind und sich in der Gesellschaft widerspiegeln. Und die einer dauerhaften, liebevollen Beziehung im Weg stehen. Beide müssen dann ganz bewusst an diesen Programmen arbeiten und sich selber heilen.

Der Weg führt bei beiden über die Selbstakzeptanz

Bei beiden führt der Weg zunächst einmal darüber, zu erkennen, dass sie tatsächlich Programme leben. Programme, die ihnen von ihrem Umfeld mehr oder minder vorgeschrieben oder als wünschenswert angeboten wurden. Die ihnen zwar ihr Überleben gesichert haben, aber nie wirklich ihrem eigenen Besten gedient haben. Programme auch, für die sie nichts können. Für beide ist dabei essenziell, zu ihrer ursprünglichen kindlichen Unschuld zurückzufinden. Denn beide werden im Laufe des Heilungsprozesses merken, dass sie, indem sie diese Programme gelebt haben, sowohl sich selbst als auch andere behindert, ungerecht behandelt und oft tief verletzt haben.

Beide müssen dann den Mut aufbringen, sich selber völlig neu kennenzulernen, ihre eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entdecken und sich dann mit allem, was sie können und nicht können, zu akzeptieren. Aus dieser Selbstakzeptanz resultieren dann neue Verhaltensweisen, die ihrerseits dazu führen, dass auch andere anders reagieren.

Man kann Narzissmus heilen

Damit bin ich bei der Eingangsfrage, ob man Narzissmus heilen kann. Man kann. Aber eben nur, wenn man einsieht, dass man irgendwas falsch gemacht hat. Durch unser Verhalten, die Dinge, die wir über uns und andere sagen, wie wir mit uns selber und anderen umgehen, erzeugen wir immer wieder ähnliche Lebenssituationen, die, wenn sie schädlich sind, unweigerlich in die immer gleichen Konflikte und Krisen führen. Deswegen kann man sicher sein, dass das, was ein Mensch in einem Bereich seines Lebens geschaffen hat, sich in allen anderen Bereichen seines Lebens ähnlich abspielt. Es gibt niemanden, der in einem Bereich seines Lebens hart und ungerecht ist, der ohne Hemmungen lügt und betrügt, in einem anderen Bereich seines Lebens aufrichtig und mitfühlend ist. Das mag kurzfristig so sein, am Anfang einer neuen Beziehung, bei einer neuen Aufgabe, aber über einen längeren Zeitraum wird sich immer das ganze Verhaltensrepertoire wiederholen. Und der Mensch wieder vor den gleichen Problemen stehen. Und hier liegt die große Chance. Sobald ein Mensch verstanden hat, dass er selber diese Umstände erzeugt, kann er sie auch ändern.

Methoden der Heilung

Die Methoden der Heilung sind vielfältig, aber letztendlich geht es immer um erkennen und verstehen. Für mich persönlich ist Familienstellen, oder freie Aufstellungen eine sehr effektive Methode, man kann sich aber genauso gut über geführte Meditationen oder Hypnose neu programmieren. Das A und O ist aber IMMER, die Verantwortung für sein Handeln voll und ganz zu übernehmen, auch für die Folgen einzustehen und es auszusprechen. Wer nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu anderen sagen kann: „das habe ich getan/nicht getan und ich erkenne an, was es mich oder dich gekostet hat.“ wird erleben, dass es dann kein Zurück mehr gibt in die alten Muster. Denn sobald es Zeugen gibt, entwickeln die Dinge eine Eigendynamik. Die Furcht vor dieser Eigendynamik aufzugeben ist das, was man in allen Religionen das „Gottvertrauen“ nennt. Darauf zu vertrauen, dass es eine liebende Kraft gibt, die es gut mit uns meint, ist dann der nächste Entwicklungsschritt. Für beide. Für Narzissten und Empathen.

Literaturempfehlungen:
Wer sich tiefer in die Thematik einarbeiten möchte, dem empfehle ich von Riane Eisler „Kelch und Schwert“, von Susan Forward „Vergiftete Kindheit“ und „Emotionale Erpressung“, von Prof. Franz Ruppert „Verwirrte Seelen“, „Seelische Spaltung und innere Heilung“ und von Bert Hellinger „Ordnungen der Liebe“.