Ehen scheitern nicht, sie erfüllen sich

Es gibt einen Satz, der mich regelmäßig auf die Palme bringt. „Die Ehe von x und y ist gescheitert“. Denn das ganze Drama, das sich bei Paaren rund um das Thema „unsere Ehe ist gescheitert“ abspielt, ist eigentlich vollkommen unnötig. Ehen scheitern nämlich nicht. Keine Beziehung scheitert jemals. Wenn Menschen sich von dem Gedanken des Scheiterns verabschieden und stattdessen sagen würden: Unsere Ehe hat sich erfüllt, unser gemeinsamer Weg endet hier, würde sich das Ganze sofort ganz anders anfühlen.

Die Ursache des Problems

Eine Ehe ist, nüchtern betrachtet, vor allem ein rechtlich wirksamer Vertrag zwischen zwei Partnern über die Rechte und Pflichten des gemeinsamen Zusammenlebens. In der Form, wie wir sie kennen, gibt es sie erst seit dem 13. Jahrhundert. Diesen Vertrag schließen wir, weil wir von Kind an gelernt haben, dass die Ehe ein erstrebenswerter gesellschaftlicher Status ist. Auch wenn wir im 21. Jahrhundert das Ganze schon sehr viel entspannter sehen, als die Menschen noch vor 50 Jahren, sind wir doch von diesen „Voreinstellungen“ geprägt. Wir haben in vielen realen Vorbildern, durch Eltern, Großeltern, Familie, Freunde, in Romanen, Filmen, Erzählungen und Geschichten ein Bild von der Ehe, und wie sie idealerweise sein sollte, gezeigt bekommen. Die meisten Menschen haben aber nie wirklich über ihre eigenen Erwartungen nachgedacht, sondern die Erwartungen von ihren Vorbildern übernommen. Vielleicht haben sie sich durch eine negative Voreinstellung sogar ganz fest vorgenommen, es besser zu machen als andere. Hand aufs Herz, haben Sie jemals ernsthaft darüber nachgedacht, ob eine Ehe überhaupt sinnvoll ist? Ob das, was man uns über die Ehe oder Beziehungen ganz allgemein gesagt hat, überhaupt erfüllbar ist?

Den anderen lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod uns scheidet

Eigentlich ist das ein ganz wunderbares Versprechen. Und in dem Moment, in dem wir es geben, fühlt es sich auch ganz richtig an. In den meisten Fällen sind sich die Menschen, die es abgeben, sogar sicher, dass sie es halten wollen und können. Aber dann führen Sie sich doch bitte vor Augen, wie viele Menschen vor uns im Laufe der letzten paar hundert Jahre dieses Eheversprechen abgegeben haben. Und wie vielen davon es tatsächlich gelungen ist, es einzuhalten. Richtig, ganz wenigen. Und wie viele haben sich ein ganzes Leben verbogen, um dieses Versprechen, wenigstens dem Anschein nach, zu halten? Auch richtig, ziemlich viele. Und wie viele waren ehrlich genug, zuzugeben, dass sie es nicht halten können? Wieder richtig, mindestens genauso viele.

Erlauben Sie sich selber, sich von einem überzogenen Ideal zu verabschieden

Wenn Sie in Ihrer Ehe an einen Punkt sind, an dem Sie und Ihr Partner oder Ihre Partnerin sich gegenseitig nicht mehr gut tun, an dem Sie sich ständig streiten und mit gegenseitigen Schuldzuweisungen überhäufen, sollten Sie nicht sich oder ihren Partner in Frage stellen, sondern die äußere Form ihrer Beziehung. Denn der weitaus größte Teil der Vorwürfe resultiert nicht aus den unterschiedlichen Bedürfnissen, die Sie vielleicht haben, sondern sehr wahrscheinlich aus den vollkommen unrealistischen Erwartungen, die Sie über die Art und Weise, wie eine Ehe oder eine gute Beziehung sein sollte, gelernt haben.

Vor der Ehe gab es andere Formen des Zusammenlebens

Die Ehe ist, wie gesagt, eine relativ junge „Erfindung“. Bis ins 13. Jahrhundert gab es alle möglichen Arten von Lebensgemeinschaften, die mehr oder minder rechtsgültig waren und mehr oder minder langfristig angelegt waren. Es gab freie Beziehungen, es gab die Vielehe, es gab wirtschaftliche Verbindungen. Die Kirche hat dann das Recht an sich gezogen, die einzig rechtlich verbindlichen Ehen zu schließen und gleichzeitig verbindliche Vorschriften über die Rechte und Pflichten der Eheleute erlassen. Selbst wenn man damals vielleicht diesem Versprechen eine gute Absicht zugrunde gelegt hat, nämlich die Lebensgemeinschaft und die daraus stammenden Kinder zu schützen, haben sich daraus über die Jahrhunderte doch völlig unrealistische Anforderungen entwickelt. Dass diese Vorschriften sich mit unserer heutigen Lebensrealität nicht mehr vereinbaren lassen, sollte jedem bei näherer Betrachtung eigentlich klar sein. Menschen, die sich selber zwingen, diesen Anforderungen, auch gegen berechtigte eigene Bedürfnisse, zu erfüllen, fügen sich damit oft große seelische Verletzungen zu. Oder verletzen andere, indem sie ihnen Schuldgefühle machen. Und genau daraus resultieren dann die berühmten Rosenkriege.

Gute Beziehungen basieren auf Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit

Alle Beziehungen, ob zu Eltern, zu Kindern, zu Freunden, zwischen Geschwistern, zwischen Paaren gleich welcher Art, können nur dann funktionieren, wenn beide Seiten sich gleichermaßen frei äußern und frei entscheiden dürfen. Wenn im Zusammenleben alle ihre Bedürfnisse artikulieren dürfen und immer wieder tragfähige Kompromisse ausgehandelt werden. In allen Beziehungen gibt es auch immer wieder Phasen, in denen man gemeinsam geht und Phasen, in denen man getrennt unterwegs ist. In gewachsenen, gesunden Beziehungen tolerieren wir das, weil wir aus Erfahrung wissen, dass unserer Trennung immer nur vorübergehend ist.

Streichen Sie das Wort „scheitern“ aus Ihrem Wortschatz

Beziehungen werden immer dann schwierig, wenn wir Angst haben, dass unsere Beziehung „scheitert“. Mit dem Begriff des Scheiterns verbinden wir nämlich viele schreckliche Dinge. Uns ist zum Beispiel gesagt worden, wenn wir scheitern, seien wir Versager, oder wir hätten etwas Kostbares für immer verloren. Deswegen möchten wir unter allen Umständen vermeiden, auf irgendeinem Gebiet zu scheitern. Selbst bei Dingen, die in unserer eigenen Macht stehen, ist die Vorstellung des Scheiterns schon problematisch. Auch hier wäre es wesentlich einfacher, das Wort „scheitern“ mit „noch nicht gelernt“ zu ersetzen. Ganz schwierig aber wird es in Beziehungen, denn da sind wir auf das Mitwirken eines anderen bei unserem Ziel angewiesen. Und die Anstrengungen eines anderen kann man nicht kontrollieren. Und meistens ist es sogar so, dass je mehr man versucht, den anderen zu irgendetwas zu zwingen, der andere sich desto mehr entzieht.

Machen Sie sich von dem Gedanken frei, dass ihre Ehe, oder ihre Beziehung „scheitern“, oder für immer vorbei sein kann. Beziehungen enden auch nicht, denn die Zeit, die Sie gemeinsam verbracht haben, gehört zu Ihrer gemeinsamen Biografie. Die Verbindung zwischen Ihnen und dem anderen wird bestehen, solange Sie leben. Sie haben ein Stück Ihres Lebensweges mit dem anderen geteilt, und dann haben Sie oder der andere sich entschieden, in eine andere Richtung zu gehen. Auch wenn es weh tut, es ist die wesentlich angenehmere Lösung, sich gegenseitig gehen zu lassen. Damit schaffen Sie auch die Basis dafür, dass Sie sich eines Tages wieder begegnen und eine neue tragfähige Ebene der Beziehung erleben können. Und Sie machen den Platz frei für einen anderen Menschen, der Sie auf Ihrem neuen Wegstück begleitet.