Narzissten und Empathen

In jüngster Zeit beschäftigen sich weltweit viele Menschen in den unterschiedlichsten Formaten mit zwei Menschentypen: Narzissten und Empathen. Eigentlich beschäftigen sich damit nur die Empathen, die sich über ihre Erlebnisse mit Narzissten austauschen. Dabei haben sie entdeckt, dass es ganz bestimmte Verhaltensmuster sowohl bei den Empathen, als auch bei den Narzissten gibt. In den Beziehungen zwischen diesen beiden Typen ist (aus Sicht der Empathen) der fürsorgliche Empath das Opfer und der rücksichtslose Narzisst der Täter. Foren, in denen sich Narzissten austauschen, habe ich bisher nicht gefunden. Vermutlich ist das logisch, da Narzissten sich dadurch auszeichnen, dass sie sich selber nicht anzweifeln, deshalb wohl auch nicht nach Gleichgesinnten suchen.

Ich bin natürlich sehr froh, dass es diese Entwicklung gibt, denn ich bin selber der typische Empath. Und genau wie viele, viele andere habe ich Jahrzehnte damit verbracht, zu versuchen zu verstehen, warum ich mich immer wieder mit einer bestimmten Sorte Mensch verstricke und am Ende hilflos und ratlos zurückbleibe. In jeder neuen Beziehung habe ich mich nach Kräften bemüht kooperativ zu sein, verständnisvoll, mitfühlend. Aber immer wieder gab es Menschen, die sich nach einer anfänglichen euphorischen Phase, in der wir viele gemeinsame Interessen entdeckten, plötzlich reizbar, ungeduldig und respektlos verhielten. Denen es anscheinend Spaß machte, mich auszunutzen, kleinzumachen und schließlich achtlos zur Seite schubsen.

Narzissten und Empathen, zwei Seiten der gleichen Medaille

Natürlich ist es für uns Empathen wichtig, die typischen Verhaltensweisen der Narzissten zu analysieren, ebenso wie die die Reaktionen der typischen Empathen. Es tut unendlich gut zu erkennen, dass man nicht alleine ist, dass es viele gibt, die die Dinge so erleben, wie ich es auch getan habe. Denn, auch das gehört zu einer typischen Empath-Narzisst Beziehung dazu: am Ende bleibt man völlig verwirrt zurück und traut seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr.

Aber ich möchte auch eine Lanze brechen für die Narzissten. Ich behaupte, dass die Empathen für die Narzissten ebenso anstrengend und enttäuschend sind, dass es ihnen mit uns ganz genauso wie uns mit ihnen. Am Anfang glauben sie, mit uns ihr Glück gefunden zu haben und müssen dann sehr schnell feststellen, dass wir mitnichten die Bewunderer und treu ergebenen Gefolgsleute sind, nach denen sie sich gesehnt haben, sondern uns plötzlich (aus ihrer Sicht) in nörgelnde, fordernde, klammernde Schwächlinge verwandeln. Am Ende verstehen sie genau wie wir, die Welt nicht mehr, bleiben wütend und enttäuscht zurück. Dass sie sich dann in Peiniger verwandeln, liegt in der Natur der Sache, denn Empathen und Narzissten sind das Ergebnis einer Aufgabenverteilung, die vor Tausenden von Jahren begonnen hat.

In Kriegsgesellschaften braucht es Krieger und Heiler
– oder Täter und Opfer

Um zu verstehen, wie diese schizophrenen Sichtweisen entstehen, muss man sich klarmachen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die Krieg und Gewalt als adäquate Mittel zur Sicherung des eigenen Überlebens betrachtet. Vermutlich gab es eine Zeit, in der dies nicht der Fall war, denn es gibt in praktisch allen Kulturen Märchen und Mythen von friedlichen, freundlichen Gesellschaften. Aber dann haben die Menschen offensichtlich entdeckt, dass es einfacher ist, anderen die Früchte ihrer Arbeit mit Gewalt abzunehmen, statt sich selber anzustrengen. Der Krieg war geboren. Und in dieser neuen Gesellschaftsform gab es nun ganz bestimmte Aufgaben zu erfüllen.

Die Krieger

Die Krieger mussten zwangsläufig Menschen sein, die ohne Mitgefühl oder schlechtes Gewissen andere Menschen bestehlen, betrügen, quälen oder töten können. Die ihren Erfolg darin sehen, möglichst viel Beute zu machen und möglichst viele Feinde zu töten. Da diese „Arbeit“ auch mit großer körperlicher Anstrengung verbunden war, übernahmen dies, auch aufgrund der schon bestehenden Aufgabenverteilung bei den sogenannten Jägern und Sammlern, irgendwann meistens Männer. Trotzdem gibt es auch viele Frauen, die kriegerisch handeln, auch wenn sie eher emotionale Kriege führen.

Die Heiler

Neben der Arbeit als Krieger gab es in Kriegsgesellschaften eine weitere wichtige Aufgabe: die Heiler. Das mussten Menschen sein, die sehr fürsorglich waren und sich deshalb besonders gut um den Nachwuchs, die Alten und die Verwundeten kümmern konnten. Diese Arbeit übernahmen – wieder aus der schon bestehenden Tradition heraus – meistens Frauen. Natürlich gibt es auch männliche Heiler.

In Kriegsgesellschaften braucht es Hierarchien

Eine ganz wichtige Voraussetzung für das Funktionieren von Kriegsgesellschaften sind Hierarchien. Damit ein Mensch bestimmte Verhaltensweisen entwickelt, muss es dafür eine Belohnung geben. Vor allem, um eine „schwere“ Tätigkeit wie die es Kriegers auszuüben, muss diese deutlich mehr Vorteile bringen, als eine „leichte“ Tätigkeit, wie die Versorgung von Kranken. Sobald Tätigkeiten oder Rollen bestimmte Vor- oder Nachteile bringen, entstehen bei uns Menschen Selbst- bzw. Fremdbilder. Tätigkeiten und Charaktereigenschaften, die uns Ansehen bringen, sehen wir als erstrebenswert und höherwertig an, während wir Tätigkeiten und Charaktereigenschaften, die nur wenig Anerkennung bringen, als minderwertig einstufen.

Logischerweise sind in einer Kriegsgesellschaft die am höchsten angesehenen Menschen die Krieger. Deshalb dürfen sie erwarten, dass andere sie bewundern, fürchten und ihnen ohne Widerworte gehorchen. Sie erhalten den größten Anteil an der Beute und bestimmen darüber, was in der Gesellschaft geschieht. Sie wissen, dass andere sie als wertvoll sehen und sehen sich deshalb auch selber so. Genauso logisch ist, dass Menschen, die für den Kriegsdienst nicht taugen, in der Hierarchie ganz unten stehen. Ihre Fähigkeiten werden als minderwertig eingestuft, deshalb ist es ihre Aufgabe, den Kriegern zu dienen. Sie erhalten von der Beute, was übrig bleibt, und dürfen nicht oder nur wenig mitbestimmen. Sie wissen, dass andere sie als minderwertig sehen und sehen sich deshalb selber so.

Hierarchische gesellschaftliche Ordnungen

Dass wir in einer Kriegsgesellschaft leben, hat sich über die Jahrhunderte auch in unserer gesellschaftlichen Ordnung abgebildet. Ganz deutlich sichtbar war das in den Zeiten der Feudalherrschaft, besonders krass haben wir das mit dem Naziregime in Deutschland erlebt. Das Prinzip von Oben und Unten, von Sieg und Niederlage zieht sich natürlich durch alle Bereiche des Lebens. Ob in militärischen Auseinandersetzungen, in der Konkurrenz zwischen Wirtschaftsunternehmen, in sportlichen Wettbewerben, in der Schule oder den Rosenkriegen, die sich Paare liefern, alle bedienen sich der Muster einer Kriegsgesellschaft.

Narzissten und Empathen als Gegenpole

Auch wenn es natürlich viele Mischformen gibt, möchte ich Narzissten und Empathen hier als Gegenpole darstellen. Narzissten sind Krieger. Sie sind der festen Überzeugung, dass alle Menschen ihre potenziellen Feinde sind. Sie sind immer wachsam, stehen immer unter Strom, wollen erobern, den Krieg gewinnen. Sie erwarten Bewunderung, Gefolgschaft, unbedingten Gehorsam, ihre Welt besteht aus Sieg oder Niederlage. Zerstören macht ihnen nichts aus, denn für sie erwächst aus der Zerstörung Macht und Reichtum. Ihre Fähigkeit sich in andere einzufühlen – die sie genauso haben wie Empathen – benutzen sie nicht, um anderen zu helfen, sondern um ihre eigenen Ziele zu erreichen.

Empathen sind Heiler. Sie sind mit den Verlusten konfrontiert, die Kriege mit sich bringen, mit den Verwundeten, den Toten und der Zerstörung. Sie glauben unverbrüchlich an das Gute im Menschen, sie sind immer achtsam, wollen ausgleichen und möglichst jeden am Erfolg beteiligen. Sie sind gewöhnt, übersehen zu werden, was aber nicht heißt, dass sie nichts zu sagen hätten. Empathen haben gelernt, dass die einzige Möglichkeit, ihre eigenen Ziele zu erreichen, die ist, im Verbund mit anderen zu arbeiten und dabei besonders einfühlsam und fürsorglich zu sein.

Wenn beide aufeinandertreffen, scheint es deshalb zunächst so, als hätten beide ihr Gegenstück gefunden. Tatsächlich ist das so. Denn auch wenn der Narzisst äußerlich erfolgreich ist, fehlt ihm doch der innere Reichtum, den ein Mensch nur durch den Zugang zu seiner Gefühlswelt findet. Der Empath wiederum kann sich erst dann als wertvoll erleben, wenn er für seine Arbeit Anerkennung in der Gesellschaft findet. Wenn die beiden sich begegnen, glauben beide zunächst, im anderen eine elegante Lösung für ihre jeweils fehlende Fähigkeit gefunden zu haben.  Dieses Modell (hat) funktioniert – bis die Voraussetzungen sich änder(te)n: Der Krieg hat keine Zukunft mehr.

Wie können Beziehungen zwischen Narzissten und Empathen funktionieren und warum sollen wir das anstreben?

Auch wenn wir noch so leben, als gäbe es etwas zu erobern auf unserem Planeten, merken wir doch mehr und mehr, dass wir an unsere Grenzen gestoßen sind. Deshalb werden wir, wenn wir als Menschheit überleben wollen, nicht umhin können zu lernen, wie man friedlich zusammenlebt. Was die New Age Bewegung, noch esoterisch verbrämt, bereits im 20. Jh. begonnen hat, müssen wir jetzt fortsetzen. Selbstliebe, bzw. Selbstakzeptanz ist dabei der Schlüssel für eine friedliche Zukunft. Bevor wir Verhaltensweisen einüben können, die eine Friedensgesellschaft befördern, gilt es zuallererst einmal die bisherigen Verhaltensweisen zu analysieren und auf ihre Wirkungsweise hin zu überprüfen. Dazu müssen sowohl Krieger als auch Heiler zuerst sich selber und dann den anderen Typus akzeptieren, wie sie gerade sind. Erst dann kann man mit neuen Verhaltensweisen experimentieren und neue Wege gehen.

In meinem Märchen vom Fuchs und der kleinen Fee habe ich die Entwicklung beschrieben, die beide Charaktere durchlaufen müssen, damit eine Beziehung funktionieren kann und auch wie die Gesellschaft sich dadurch weiterentwickeln kann.

Für die Empathen ist es wichtig zu erkennen, dass sie in dem Moment, wo sie Narzissten als Feinde sehen, auf dem besten Weg sind, selber zum Täter zu werden. Denn Feindbilder sind eine Grundvoraussetzung für kriegerisches Handeln. Empathen sollten sich deshalb lieber bewusst machen, dass ihre Fähigkeiten in einer Friedensgesellschaft wichtig und bedeutend ist, dass es niemanden gibt, der sie dort dafür abwerten würde, dass sie friedlich und fürsorglich sind. Sie sollten sich auch bewusst machen, dass der Narzisst gar nicht wissen kann, was sie für ein Problem mit ihm haben, weil er ja aus seiner Sicht die höhere Position einnimmt und sowieso alles richtig macht. Wenn sie das verinnerlicht haben, werden sie bei Angriffen oder Vorwürfen durch Narzissten nur mit der Schulter zucken, sich aber weder rechtfertigen noch versuchen, dem Narzissten fürsorgliche Verhaltensweisen beizubringen.

Narzissten sollten sich bewusst machen, was sie ihrem Status als Krieger alles geopfert haben. Sie haben alles ihrem Erfolg untergeordnet, haben vermeintlich Macht angesammelt, können aber letztendlich ihren Erfolg nie wirklich genießen, aus Angst, ein anderer könnte ihnen alles nehmen. Sobald sie lernen, dass sie nicht immer kämpfen müssen, können sie sich auch den Empathen nähern und glauben, dass sie sich die Fürsorge des anderen nicht mit Gewalt erzwingen müssen. Dieses Vertrauen in andere ist die Grundvoraussetzung dafür, dass sie sich erlauben können, das rostige Schloss zu ihrer Gefühlswelt wieder aufzusperren.